Johann-Sebastian Bachs »Kunst der Fuge« – ein Stück Unterhaltungsmusik?

Es ist schon erstaunlich, eines der letzten, unvollendet gebliebenen Werke von Johann Sebastian Bach mit einem musikalischen Genre in Verbindung zu bringen, das doch gerade für das Gegenteil dessen steht, was der Komponist mit diesem Werk beabsichtigte. Unterhaltungsmusik, – so lesen wir in einem Artikel in der ZEIT Nr. 38 vom 16. September 1960 auf Seite 6 –, das sei Musik, die den Hörer angenehm unterhält und eben aus diesem Grunde so oft deklassiert würde. Diese Sorte von Musik »ist unter seriösen Musikern und nach dem offiziellen Sprachgebrauch der GEMA eine Branchenbezeichnung für Café-, Tanzflächen- und Schlagermusik«. Dass Bach zu seiner Zeit der Unterhaltungsmusik durchaus positiv gegenüberstand, belegen die vielen Konzerte (angeblich um die 600), die er im Café Zimmermann, einem berühmten Leipziger Lokal, geleitet haben soll. Hierfür hat er sicherlich nicht nur eigene Kompositionen beigesteuert, sondern auch mit seinen »Coverversionen« der Musik Vivaldis geglänzt. Ob die Musik des letztgenannten der Unterhaltungsmusik zugerechnet werden kann, sei hier weiter nicht diskutiert, denn es soll ja der angebliche Unterhaltungswert der »Kunst der Fuge« näher beleuchtet werden, ein Werk, dass wir uns – im Gegensatz zu manch anderer Bachscher Komposition – wohl kaum in einer von Kaffee- und Rauchwarenduft durchzogenen Caféatmosphäre vorstellen können.

Bezogen auf ihre Entstehungszeit ist die Kunst der Fuge einer ganz anderen Sphäre zugeordnet, war sie doch nach den neuesten Forschungen als letzte Jahresgabe für die Mizlersche Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften gedacht, einer Gesellschaft aus Komponisten (u.a. gehörten ihr auch Händel, Telemann und Graun an) und Musiktheoretikern. Jedes Mitglied hatte bis zum vollendeten 65. Lebensjahr eine musikalisch-wissenschaftliche Arbeit per anno einzureichen. Zu seiner Aufnahme 1747 legte Bach den Canon triplex a 6 Voci BWV 1076 und die kanonischen Veraenderungen, über das Weynacht-Lied: Vom Himmel hoch da komm ich her BWV 769 vor. Auch das Musikalische Opfer BWV 1079 für das Jahr 1748 und die Kunst der Fuge BWV 1080 als letzte zu erbringende Jahresgabe für das Jahr 1749 können in einen Zusammenhang mit der Sozietät gebracht werden: beide Werke sind also in einen musiktheoretischen Zusammenhang eingebettet.

Es liegt einer gänzlich falsch verstandenen – und von den Söhnen Bachs auch geförderten – Rezeption dieser aus 16 Fugen und 4 Kanons bestehenden Sammlung, dass die Kunst der Fuge nach Bachs Tod einer fast völligen Vergessenheit anheim fiel, ihre von Bach vorgesehene Abfolge der einzelnen Contrapunctus und Kanons bis heute nicht geklärt ist und aus der unvollendet gebliebenen letzten Fuge – deren Zugehörigkeit ebenfalls pro und contra diskutiert wird – ein reich gesponnener Mythos erwuchs. Es ist hier nicht der Ort, um die vielen Missverständnisse, die sich schon fast wie ein undurchdringliches Gestrüpp um dieses Werk ranken, darzustellen, dies hat innerhalb der Musikwissenschaft zu unzähligen seriösen wie unseriösen Stellungnahmen herausgefordert, bei denen so mancher wissenschaftlich gemeinter Ansatz mitunter ein ungläubiges Staunen hervorruft. Im 19. Jahrhundert durch die Klavierausgabe von Carl Czerny einem Kreis von Spezialisten (u.a. Mozart, Beethoven, Brahms, Schumann, Bruckner) bekannt – und schon allein dadurch dem Verdikt der »reinen Augenmusik« enthoben –, wurde das Werk zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine systematische Analyse und daraus entstandener Orchesterbearbeitung von Wolfgang Graeser (eines von jenen genialisch scheiternden, neurasthenisch durchdrungenen Genies, wie sie nur die Zeit des Fin de Siècle hervorbringen konnte) einem breiten Publikum bekannt. Auch wenn Graesers Folgerungen aus seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Kunst der Fuge nicht haltbar waren und auch prompt widerlegt wurden, setzten seine theoretischen wie praktischen Bemühungen eine rege Beschäftigung mit Bachs letztem Werk in Gang. Obwohl auf wissenschaftlicher Seite die letzten Rätsel um dieses Werk bis heute nicht gelöst wurden und unvermindert zu immer neuen Spekulationen angesetzt wird, ist auf praktischer Seite eine geradezu beängstigende Bearbeitungsflut dieser Komposition zu verzeichnen. So sind neben Fassungen für Tasteninstrumente unzählige Transkriptionen entstanden, die ausgeführt von kleineren und größeren Ensembles unterschiedlicher Besetzung bis hin zu ausufernden symphonischen Gestaltungen reichen und allesamt wohl kaum der Sphäre der Unterhaltungsmusik zuzuordnen sind.

Auch eine Fassung für elektronische Klänge, die für die 37. Würzburger Bachtage im Jahre 2005 in Auftrag gegeben wurde, fühlte sich in ihrer Realisation ganz der Tradition verpflichtet, auch wenn hier mit bislang an diesem Werk noch nicht erprobten Klängen gearbeitet wurde. Deren Auswahl wurde nicht nach effekt-reißerischen Kriterien vorgenommen, sondern ganz in den Dienst der polyphonen Struktur des Werkes gestellt: Die einzelnen Themen und Gegenthemen wurden durch eine sorgfältige Wahl der Klänge plastisch herausgearbeitet, und das Publikum wurde durch eine vier-kanalige Raumprojektion der einzelnen Stimmen in das kontrapunktische Geschehen mit einbezogen. Die von Bach verwendeten eher technisch anmutenden Titel der einzelnen Stücke wurden poetisiert und anglifiziert; ebenso wurde mit den Bezeichnungen der überlieferten Zusammenstellungen der einzelnen Fugentypen und Kanons verfahren. Dass bei der einhellig bejubelten Uraufführung am 27. November 2005 in der St. Johannis Kirche in Würzburg eine – ziemlich misslungene – Lichtinstallation und zu einigen Fugen eine abstrakte durchaus sehr interessante Choreographie geboten wurde, war dem Wunsch des Veranstalters geschuldet. Dieses jedoch durchaus tragfähige Konzept wurde in anderer tänzerischer und lichtgestaltender Besetzung in den Jahren 2007 in Rostock und Hamburg mit großem Erfolg wiederholt. Zuletzt wurde im Jahre 2010 anlässlich der »Langen Nacht des Denkmals« in der Hansestadt Stralsund eine dreißigminütige Auswahl aus dem Zyklus gegeben, der mit einer auf die Architektonik der Marienkirche abgestimmten Lichtinstallation gekoppelt war.

Die elektronische Transkription der Kunst der Fuge war unter dem Titel BACHdimensional – the electronic art of fugue im Jahre 2007 bei der GEMA im Bereich E-Musik angemeldet worden und für die drei Konzerte in diesem Jahr auch korrekt bestätigt und vergütet worden. Allein für das Konzert im Jahre 2010 wurde die Bearbeitung ganz überraschend in den Bereich U-Musik eingestuft, begleitet von der süffisante Bemerkung, dass bei einer Unzufriedenheit mit dieser Tatsache eine qualifizierte Werkeinstufung durch den Werkausschuß [sic!] möglich sei. Davon Gebrauch gemacht, wurde durch einen promovierten GEMA-eigenen Musikwissenschaftler diese Bearbeitung der Kunst der Fuge als nicht schützenswert eingestuft. Es ist hier nicht der Ort und die Absicht, diese Bearbeitung mit anderen Transkriptionen zu vergleichen, wohl wissend, dass diese bei der GEMA dem Bereich E-Musik zugeordnet sind und entsprechend honoriert werden. Sicherlich geht die Art der Bearbeitung bei der electronic art of fugue klanglich, künstlerisch und ästhetisch sowie in ihrer Performance gänzlich andere Wege als die »etablierten« Bearbeitungen und soll nicht zuletzt auch durch die Poetisierung der Titel vielfältige Assoziationen eröffnen. Durch die Integration von gestaltetem Tanz und Licht können beim Erleben dieser electronic art of fugue ganz neue Dimensionen abgewonnen werden. Und hierzu bedarf es jetzt und in Zukunft keiner Verwertungsgesellschaft mehr.

Ob es sich nun Unterhaltungsmusik handelt oder eine etwas andere ungewöhnliche, durchaus seriös gemeinte und künstlerisch nicht unbedachte Bearbeitung ist, dieses Urteil sei den Lesern beim Anhören des Eröffnungsstückes (Contrapunctus I aus der Gruppe der vier einfachen Fugen oderspaces of statues … the mystical) selbst überlassen und dies durchaus mit der Absicht, dass es »den Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung« gereiche, wie Bach eine von seinen anderen ernsten und gelehrten Kompositionen so trefflich im Titel charakterisierte.
Der gesamte Zyklus ist ab sofort im Internet als MP3-download international (neben iTunes u.a. bei amazon.deamazon.comamazon.co.uk) und als unkomprimierter WAV-Download (u.a. bei musicload.de) verfügbar.